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Kritik von Werner Zintgraf zum Konzert mit Musik der Romantik am 26.6.1988
Ein
substanzreiches A-capella-Programm
Nagolder Kantorei mit Werken aus der Hochromantik - Orgeleinlagen
von Rudolf Schmid
Nagold. Immer deutlicher schält sich die persönliche
Handschrift von Kantor Ingo Bredenbach in der Programmgestaltung der Stadtkirchen-Konzerte
heraus. Allein die angekündigte Fülle von Terminen und Themen
für das 2. Halbjahr lässt staunen über soviel Mut und Unternehmungslust.
Wie das Publikum auf dieses Experiment anspricht, bleibt abzuwarten. Auf
Bredenbachs jüngstes Unternehmen »Musik aus der Romantik«,
begonnen im Februar mit einem Reger-Konzert, jetzt fortgesetzt mit einem
A-capella-Programm und Orgeleinlagen, reagierte leider nur ein schmaler
Liebhaberkreis. Wobei freilich die Angebotsfülle am letzten Wochenende
sich nachteilig ausgewirkt haben könnte. Künftig frühzeitig
mit »allen Veranstaltern« die Termine abzustimmen, wäre
ratsam.
Von Felix Mendelssohn (1809-1847) und dessen Psalm 100 »Jauchzet
dem Herrn alle Welt« bis zu Heinrich Kaminski (1886-1946) mit dessem
Orgelchoral über »Meine Seel ist stille« und Psalm 130
»Aus der Tiefe ruf ich« wurde ein stilistischer Querschnitt
durch die Hochromantik angeboten. Einer Epoche also, der sich die evangelischen
Kantoreien erst seit 30 Jahren öffnen, sie als Impulsgeber erkannten
und mählich das Dogma von der »konfessionellen Herkunft«
der Komponisten als ad absurdum reflektieren. Dass parallel zu dieser
Romantik-Öffnung sich eine ständig zunehmende interpretatorische
Leistungsbereitschaft vollzog, zählt zu den positivsten Ergebnissen.
Zu jenen »Vergessenen« zählt auch der Westfale Friedrich
Kiel (1821-1885), der durch den Franz-Liszt-Kreis eine führende Position
in Berlin erhielt; manche seiner Schüler beeinflussten unser Musikleben
nachhaltig. Aus seinen Motetten Opus 82 hörten wir hier erstmals
jene drei nach Psalm 23, 84 und 126 (Und ob ich schon wanderte - Wie lieblich
sind deine Wohnungen - Die mit Tränen säen). Kiel kam durch
einen Verkehrsunfall zu Tode - da muss er wohl einer Pferdedroschke in
den Weg gelaufen sein ?
Zu seinem Nachfolger wurde der aus Graz stammende Heinrich von Herzogenberg
(1843-1900) berufen. Dessen Begegnungen mit Brahms (in Wien) beeinflussten,
trotz Vorlieben für Schumann und Wagner, sein umfangreiches kompositorisches
Schaffen unverkennbar. Auch diesem wurde erst in den letzten zwanzig Jahren
wieder nachgespürt. Wir hörten daraus erstmalig zwei (von sechs)
Choralvorspielen über »Kommt her zu mir« und »Meinen
Jesum lass ich nicht« aus Opus 67 (1890) und einen Dialog »Ist
doch der Mensch gar wie nichts« (op. 103) für Tutti- und Kapellchor,
einer alten Musizierpraxis folgend.
Der in Preßburg/Slowakei geborene Franz Schmidt (1874-1939) wurde
1914 nach Wien berufen und setzte dort enorm viele, bis heute aber immer
noch verkannte Akzente. Zwei (aus vier) kleine Choralvorspiele über
»O Ewigkeit, du Donnerwort« und »O wie selig seid ihr
doch, ihr Frommen« interpretierte Rudolf Schmid, wobei die Choralmelodien
auf variablen ostinaten Begleitfiguren grundieren; ein nur bescheidener
Einblick in ein umfangreiches Oeuvre. Nebenbei: Schmidts einzige, hochbegabte
Tochter »entführte« sein Schüler Alfons Holzschuh
nach Ravensburg; ihr früher Tod hatte den Vater tief bedrückt.
Die schwierigste Aufgabe mutete Ingo Bredenbach seinen rund 60 Choristen
zu mit drei 4- bis 8stimmigen Motetten (op. 110) von Johannes Brahms (Ich
aber bin elend - Ach, arme Welt, du trügest mich - Wenn wir in höchsten
Nöten sein) und hernach noch Psalm 51 »Schaffe in mir Gott«
(aus op. 29). Inmitten und zum Finale Max Regers Improvisationen und Fuge
a-Moll (aus op. 65) für Orgel und dessen wunderschönes »Nachtlied«
(aus op. 138).
Hier nun auf interpretatorische Ergebnisse im Detail einzugehen, würde
den Spielraum des Berichters sprengen. Dem erscheint wichtiger, das von
Bredenbach offerierte breite Spektrum aus der Überfülle romantischer
Chor- und Orgelmusik anzudeuten und in summa anzumerken, mit welch couragiertem
Einsatz der Chor seinen Intentionen folgte. Seine stimmbildnerische Arbeit
trägt inzwischen (Intonationssicherheit / Artikulation) reife Früchte.
Gelegentliche Einsatzunsicherheiten lassen sich gewiss bald verbessern.
Von Rudolf Schmid hätte man sich hin und wieder »schärfere
Register«, auch in der Verteilung auf die drei Prospekte, wünschen
mögen. Doch jeder hat ja verschiedene Vorstellungen und Empfindungen,
keiner kann jedem gerecht werden. Der »musikalischen Romantik«
nachzuspüren, setzt ein enorm breites (aber auch ergiebiges) Spannungsfeld
voraus, das einer intensiven Befassung bedarf - und ebenso der Hinführung
für einen, noch zu erschließenden, Liebhaberkreis.
Es gab diesmal auch nicht den leisesten Versuch zu einem klatschenden
Beifall! Doch Ingo Bredenbach, seine Choristen und Rudolf Schmid dürfen
versichert sein, den knapp hundert Zuhörern ein tiefes Erlebnis beschert
zu haben. Die Kantorei kann mit so hervorragenden interpretatorischen
Qualitäten getrost auf (bereits schon angekündigte) Konzertreisen
gehen!
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