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Kritik von Werner Zintgraf zum Passions-Konzert am 16.3.1986
Gerhard Kaufmanns Nagolder „Schwanengesang”
Bei einer Passionsmusik der Kantorei noch einen „schweren Brocken” vorgesetzt

Nagold. Der Abschied des Nagolder Bezirkskantors rückt immer näher. Eine Passionsmusik in der Stadtkirche war zumindest mit der Kantorei die letzte öffentliche Vorstellung, sozusagen sein „Schwanengesang” (wie ein solch Letztes seit Franz Schubert bezeichnet wird). Dabei hatte er den 56 Sängerinnen und Sängern nochmals einen schweren Brocken vorgesetzt mit der Uraufführung seiner dramatischen Gesangsszene „Christus und die Schächer” nach freigestalteten Texten aus dem Matthäus-Evangelium.
Ziemlich verschachtelt die formale Aufteilung nach dem Kreuz-Symbol in acht Versetten (die Altvorderen hielten sich immer konsequent an die Sieben als mythologisch heilige Zahl). Die Rolle des Bösen unter den beiden Schächern war der Altstimme (Gerda Blau-Lorek drehte da mächtig auf!) mit Orgel und Röhrenglocken, die des Guten einem Kinderchor mit Streichtrio und kleinem Schlagwerk zugeteilt.
Die Worte Jesu am Kreuz interpretierten ein Männerchor, zwei Tenöre (Georg Kaplan vom SDR, Eberhard Schuler-Meybier aus Calw) auf einem Klangfundament von drei Saxophonen (darunter Ulrich Bender), zwei Posaunen (Klaus Herrmann / Matthias Schnabel) und Pauken (Bernd Haid aus Hechingen). In die schrill sich immer wieder aufblähenden Klangmassierungen, gleichsam den Proestaufschrei gegen die Kreuzigung aud der Empfindung der Nachgeborenen ausdrückend, blendete ein Fernchor aus Frauenstimmen das „Credo in unum Deo” (Ich glaube an den einen Gott) ein.
Nur wer den Text sich zuvor einprägte, vermochte dem tieferen Sinn dieses „dramatischen Schreies” (und der komplizierten Seelenlage des Komponisten) auf die Spur kommen. Die nur rund 350 Zuhörer nahmen aber gewiss diese aufrüttelnde Umsetzung einer Kaufmann-Idee in sich auf.
Einen uralten (oder gar selbst erfundenen ?) Text legte Kaufmann seinem geistlichen Lied „Gott's und der Marien Sohn, musstest diese harte Plag willig leiden, dich in' Tod unsrer Sünde neigen...” in der Form eines Tryptichon zugrunde: Die Altstimme mit einem ostinaten „Kyrieleis”-Motiv, ornamentiert von einem zweiten ostinaten Motiv für Altsaxophon (Christine Rall) eröffneten jeweils vier Strophen für Kinderchor und beschlossen dessen einstimmige Gesänge mit einer Finalvariante.
Zwischendurch und hernach, gewissermaßen die ganze Spannbreite des Kantors nochmals aufzeigend, waren zwei Motetten von Johann Hermann Schein (1586-1630) zu hören; die fünfstimmige „Was betrübst du dich, meine Seele” und die sechsstimmige „O Domine Jesu Christe”, beide in einem sehr fein abgerundeten Chorklang.
Dazu die große Choralpartita aus Hugo Distlers „Choralpassion”; entstanden in jenem für so viele Menschen (und Distler selbst) hoffnungsvollen Jahr 1933, welches dann 1945 in einem grässlichen Inferno endete. Distler erlebte es nicht mehr, weil er 34jährig, von Erfolgswogen getragen, dennoch 1942 in Berlin sein Leben selbst auslöschte, (ist ein Selbstmörder - abscheuliche Bezeichnung für das selbstbestimmte Lebensende - für die Kirche überhaupt tragbar?). Wer an die schwierigen Anfangsjahre von Gerhard Kaufmann sich zurückerinnert und nun die großartige Wiedergabe dieser Partitta mit all ihrem Formenreichtum hörte, kann ermessen, was er an chorischer Aufbauarbeit und Deutung geistiger und musikalischer Inhalte erreicht hat. Gerade Distler bleibt für Laienchöre immer ein Maßstab an Leistungswillen und Können. Die Kantorei hat dieses weit über dem Durchschnitt stehende Können im A-capella-Gesang an diesem Abend erneut unter Beweis gestellt. Dass Kaufmann bei der zweiten Variation dem Frauenchor noch seinen kleinen Kinderchor hinzugesellte, spricht für seine pädagogischen Ziele.
Nach Lesungen des Hausherrn, Dekan Götz, mit dem prophetischen Lied vom Verachteten und Gequälten aus Jessaias Kapitel 53 sowie aus des Matthäus Schilderung vom Kreuzestod „Eli, lama asabthani” folgten zum Ausklang der Passionsbesinnung neun Strophen des von Adam Krieger (1634-1666) überlieferten Chorals „Nun sich der Tag geendet hat” in einem Kaufmann-Arrangement (Alt und zwei Tenöre) und Gemeindegesang. Ein tröstliches und zugleich erhebendes Finale.
Wie so beiläufig zu erfahren war, sind bislang ein Dutzend Bewerbungen um die ausgeschriebene Kantoreistelle eingegangen. Der Kirchengemeinderat wird sicher vor eine schwierige Entscheidung gestellt, die richtige Wahl für die Kaufmann-Nachfolge zu treffen. Er wird am 1. Juli seine Arbeit an der Tübinger Stiftskirche aufnehmen.

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