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Kritik von Werner Zintgraf zum Konzert am 8.4.1984
"Er trug sein Kreuz in Niedrigkeit"
Passionskonzert der Nagolder Kantorei - Uraufführung von zwei Kaufmann-Werken

Nagold. Konzerte, die ihrem Wesen gemäß nicht nur auf Publikumswirksamkeit abheben. sondern auch verborgene Inhalte geistiger und geistlicher Substanz musikalisch vermitteln wollen, seien von wohlgesonnener Unterstützung abhängig - heißt es im Aufruf zur Gründung eines "Freundeskreis der evangelischen Kirchenmusik in Nagold", der anläßlich des Passionskonzertes am Sonntagabend in der Stadtkirche verteilt wurde - an einen zu kleinen Besucherkreis! Was muß diese agile Kantorei eigentlich noch anstellen, um eine größere Resonanz zu finden? Dabei ist doch das erarbeitete Programm zur Einstimmung auf die Passionszeit der Christen (und das sind doch wohl über 85 Prozent der Bevölkerung?) in seiner Vielfalt wie in seinem geistig-seelischen Gehalt kaum zu überbieten - ausgenommen natürlich große oratorische Werke, die aber auch ein Vielfaches an Kosten verlangen. Oder liegt's doch an der fatalen Neigung "was der Bauer nicht kennt..."?
Sei vorab von der "Passion" berichtet, jener feierlichen Verkündigung vom Leidensweg des Herrn: Wie Pfarrer Schüll aus dem 22. Psalm rezitierte und Gerhard Kaufmann wie in einer Passacaglia jene Verheißung Jesu am Kreuz "Wahrlich ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein" einblendete, das waren schon aus dem üblichen Rahmen ausbrechende Szenen, überhöht und verdichtet durch die konzertanten Darbietungen.
In den Gesangbüchern der "Böhmischen Brüder" entdeckte Gerhard Kaufmann einen gregorianischen Hymnus, in dem es u.a. heißt: "Er trug sein Kreuz in Niedrigkeit und duldet groß' Undankbarkeit. Er sucht' der Menschen Besserung, litt drüber Schmach und Lästerung." Die vier Strophen gaben Anregung zu einer neuen Komposition, wobei er das gregorianische Melos für die Frauenstimmen in Clustervokalismen ausweitete, die Männerstimmen mit der Textwiedergabe als cantus firmus im mittelalterlichen Fauxbourdon-Stil einschiebt, beiden Chorgruppen noch Stützen durch Streichinstrumente gibt.
Wenn ob solch ungewohnter Musizierpraxis sich hin und wieder leichte Unsicherheiten einschlichen, ist das begreiflich. Dennoch erzielte der Chor sehr aparte, stimmungsvolle Klangresultate. Daß die rund 60 Sängerinnen und Sänger dieses Werk überhaupt so mutvoll anpackten, ist ihnen hoch anzurechnen; ihrem Spiritus rector haben sie einen beachtlichen Erfolg seiner jüngsten Kreation beschert.
Eine zweite Uraufführung bleibt hier gleich anzufügen: "Geistliches Lied" für Alt und Streichquintett nach einem Gebet des Wilhelm von Kügelgen. Da kann der Rezensent aber doch sein Befremden nicht verhehlen, den ohnehin reichlich antiquierten frommen Sprüchen noch einen weiteren draufzusetzen, zumal er im Kontext beileibe nicht an das Niveau der kompositorischen Konzeption heranreichen kann. Auf eine kurze Formel gebracht: Gerhard Kaufmann verbindet chromatische Linien in der Art Max Regers mit weitgespannten melodischen Bögen, die an Gustav Mahler erinnern, womit er eine komprimierte Synthese expressionistischer Klangfarben erzielt. Für die gewiß nachhallend tiefe Wirkung auf den Hörer sorgte Gerda Blau-Lorek. Das arios angelegte, zwei Oktaven umfassende Melos bot dieser Sängerin alle Chancen, ihre schöne Stimme nuancenreich zu entfalten, kongenial unterstützt vom Streicherensemble.
Eine weitere Möglichkeit, mit ihren kultivierten stimmlichen Möglichkeiten zu glänzen (die Textverständlichkeit kommt leider zu kurz) hatte die Sängerin in einem "Lamento" (Ach, daß ich Wassers gnug hätte in meinem Haupte und meine Augen Tränenquellen wären, daß ich Tag und Nacht beweinen könnte meine Sünde ... ) für Alt, Streichquintett und Generalbaß (am nagelneuen Clavichord Rudolf Schmid) von Heinrich Bach (1815-1692).
In diesem ausdrucksvoll gestalteten Werk überraschte eine kühne, in die Zukunft weisende, durch häufige Verwendung des "Neapolitaner" ausgelöste Harmonisierung. Angus Ramsay, Lilo Rück, Andreas Hanke und Andrea Schober vom Pforzheimer Kammerorchester bewährten sich noch hervorragend bei der Wiedergabe des "Lyrischen Andante" von Max Reger, während Gerhard Ziegler (Gerlingen) am Kontrabaß hier, wie auch schon zuvor, Leseschwierigkeiten hatte.
Schwierigkeiten - so hörte man wenigstens noch vor der Nagolder Erstaufführung - schien auch dem Chor die sechsstimmige Motette "0 Herr, mache mich zum Werkzeug deines Friedens" zu bereiten, die der Frankfurter Kurt Hessenberg (übrigens ein Urenkel des Struwwelpeter-Verfassers und Erbauers der ersten Anstalt für geistig behinderte Menschen) nach Worten des Franz von Assisi 1946 schrieb. Gewiß gab es Unsicherheiten in Einsatz und Intonation und gewiß hätte man sich noch mehr dynamische Kontraste wünschen können, aber diese vorbelastenden Ängste waren eigentlich grundlos; vor allem die imitatorischen Schichtungen im Eingangsteil gelangen hervorragend, und mit mehr Konzentration auf die dirigentischen Weisungen wären die nachfolgenden Abschnitte mit gleichem Elan zu bewältigen gewesen.
Es scheint, daß der erfreulichen quantitativen Verstärkung der Kantorei die qualitative immer noch etwas nachhinkt, Eine präzisere Textartikulation, mehr individuelles Engagement hätte nämlich auch der Brahms-Motette "Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen" wohlgetan, schlicht gesagt "mehr Herz", nicht zuletzt bei der polyphonen Linienführung der Stimmen, wie es mit gutem Ansatz beim Choral "0 Herre Gott" von Max Reger vernommen wurde und besonders dann im "Nachtlied" (auf einen Text der "Böhmischen Brüder") des gleichen Komponisten zu einem geglückten, stimmungsvollen Ausklang führte.
Hier blühte jenes innere Mitschwingen auf, welches das chorische Urerlebnis über die Instrumente hinaushebt. Der Kantorei und ihren mitwirkenden Gästen sei Dank gesagt für ihren Einsatz und Leistungswillen, der hierorts immer wieder neue, bemerkenswerte Akzente in einem nicht gerade zu üppig blühenden Kulturleben setzt. Daß dem gemeinnützigen "Freundeskreis" möglichst viele Bürger ihre Unterstützung zusagen, dazu sei auch von dieser Stelle aus aufgefordert.

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