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Kritik von Werner Zintgraf zum Konzert am 28.3.1982
"Der du für uns gelitten hast"
Passionsmusik in der Stadtkirche - Erstaufführung der Lechner-Passion

Nagold. Der Leidensweg Christi als ständige Herausforderung zu neuer Besinnung christlicher Glaubens- und Sittenlehre ist für den Nagolder Kantor Gerhard Kaufmann ein zentrales Anliegen. Als geistiger Tiefbohrer stellte er die Passionsmusik am letzten Sonntag unter eine Epistel der Maßlosigkeit des Menschen als Gernebegreifer, Gerneerschütterter, als Gernesehnsüchtiger, Gernegläubiger - ohne Gott in seiner Unendlichkeit wirklich begreifen zu können.
Ihm zu folgen dürfte manchem Schwierigkeiten bereiten, aber er hat es sich und "seiner Gemeinde" noch nie leicht gemacht. Sein Anliegen ließ sich, wenigstens annähernd, auch aus den ausgewählten Lied- und Choraltexten herauslesen, beispielsweise in dem von Max Reger vertonten Novalis-Epigramm "Ich sehe dich in tausend Bildern, mein Jesus ... doch keins von allen kann dich schildern" oder Paul Gerhardts "Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld der Welt... und büßt in Geduld die Sünden aller Sünder".
Im Mittelpunkt stand heuer das größte geschlossene Werk des aus dem Etschtal stammenden, nach manchen Wanderungen 1585 in Stuttgart gelandeten und dort auch im September 1606 53jährig verstorbenen "bedeutendsten südtiroler Musiker" Leonhard Lechner. Diese "Figuralpassion" (figurative Symbole für bestimmte Personen oder Geschehnisse) entstand vermutlich um 1503 in Stuttgart (Lechner wurde 1594 dort zum Hofkapellmeister und Chef von rund 50 Sängern und Instrumentalisten ernannt). Die motettische Verschachtelung der vier Stimmen verwehrt eine spontane, unmittelbare Wahrnehmung des zugrunde gelegten Textes aus dem Johannes-Evangelium; lediglich dem geübteren Ohr ist der "Choralton" als ständig wiederkehrendes, auf die Stimmen verteiltes Hauptthema vernehmbar.
Diese kunstvolle, sich nicht mehr "mitteilende" Polyphonie, wie Lechner sie von Orlando di Lasso übernahm, führte letztendlich zur Ablösung durch den "monodischen Stil", um - endlich wieder - den Gefühlsgehalt des Wortes zum Ausdruck zu bringen. Aber solche Gegenströmungen pflanzten sich - immer wieder zu kunstvollen Extremen getrieben - bis in die Gegenwart fort. Die Sublimierung von Kompositions- und Interpretationstechniken ist zwar erläuter- und wahrnehmbar, doch für den Liebhaber, ob alter oder neuester Prinzipien, aufzunehmen unverändert kompliziert, ob im 16. oder 20. Jahrhundert! (Wo bleibt denn da, verdammtnochmal, der so gepriesene Fortschritt des Menschen?).
In solcher Betrachtung von "Ergriffenheit" oder "glühender Hingabe" (wie der Lechner-Forscher Konrad Ameln formulierte) zu sprechen, bleibt mit einem Fragezeichen versehen. Denn die exzellente Wiedergabe des Werkes durch die Nagolder Kantorei mit einer verblüffenden Intonationsstandhaftigkeit machte, dem Rezensenten wenigstens, die variable Transportfähigkeit der Komposition als Kontrafaktur (auf andere Texte) deutlich, ohne hier auf diese Problematik oder Lechners Zyklus "Das hohe Lied Salomonis" als beweiskräftiges Argument deutlicher eingehen zu können. Solches ungeachtet: Daß die Kantorei sich dieser schwierigen Aufgabe widmete und sie so hervorragend löste, zählt zu einer bewundernswerten Tat, deren sich bisher nur wenige andere rühmen dürfen.
Aber Gerhard Kaufmanns Passionskonzept drückte sich auch noch in einer zweiten Gruppe aus: Drei Gesänge für Alt und Orgel aus Max Regers Opus 105 und 137, verknüpft mit den zwei Bach-Chorälen "Durch dein Gefängnis" - "Freu dich sehr, o, meine Seele" (unter der Ko-Direktion von Erika Fezer) und einem Kaufmann-Satz für Orgel und Kinderstimmen "Ein Lämmlein geht" als gedankliche Verdichtung seines Protestes gegen die Maßlosigkeit. Dazu hätte er, konsequenterweise, auch die beiden Gesänge für Alt/Orgel "O hilf, Christe" - "O du Lamm Gottes" von Günter Raphael (1903-1960) einbeziehen müssen. Allerdings war ihm hier die Einfügung einer Idee wohl vordergründiger: In der Art des alten Discantus (als Motettenvorläufer) überschichtete er die Solostimme in der Wiederholung mit zwei Choralweisen für Kinderstimmen; ein infolge ungenügender Konzentration der Kinder nur halbwegs gelungenes, doch konstruktiv bemerkenswertes Experiment.
Der Solistin Eva-Maria Bausch (Stuttgart) gelang es trotz stimmlicher Indisposition die Lieder von Raphael und Reger mit Wohllaut zu gestalten; einfühlend, aber kontrapunktisch doch zu dezent begleitet von Rudolf Schmid. Er eröffnete das Passionskonzert mit Samuel Scheidts Fantasie und Fuge für vier Stimmen "Io son ferito lasso" (ich neige zur Übersetzung: Meine Seele ist tief verwundet) und beschloß diese Kaufmann'sche liturgische Hintergründigkeit mit Präludium und Fuge op. 85/4 (1904) des unsere Kirchenmusik so enorm belebenden, aus der Oberpfalz stammenden Katholiken Max Reger.

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