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Kritik von Werner Zintgraf zum Konzert am 5.4.1981
Uraufführung von vier Kaufmann-Liedern
Hohe Anerkennung - Nagolder Kantorei sang erstmals "Deutsche Messe" von Pepping

Nagold. Vor 15 Monaten stellte der Komponist Gerhard Kaufmann zuletzt seinen Marien-Liederzyklus vor; jetzt, am vergangenen Sonntag, erfolgte die Uraufführung seines vierteiligen Zyklus für Alt, Flöte, Englisch Horn, Violine, Viola, Harfe und Orgel nach Gedichten des barocken Lyrikers Friedrich von Spee (1591-1635) in der originalen Textfassung. Dem bekanntesten "Bei finster Nacht" (bei Brahms "In stiller Nacht") folgten "Jerusalem, du schöne Stadt", "Sobald die Sonn verjagd den Mon(d)" und zuletzt "O Traurigkeit, o Herzeleid".
Spee, den mutigen katholischen Protestierer gegen die Hexenjagden, kann man in eine Gruppe mit den beiden jüngeren protestantischen Liedschöpfern Paul Gerhard und Paul Fleming einreihen. Sicher gab der schon erwähnte wundervolle Brahms-Chorsatz Kaufmann den Anstoß, sich mit diesem Dichter intensiver zu befassen. Dabei gelingt ihm, trotz aller Freizügigkeit in der linearen Anordnung seines Tonmateriales, eine erstaunliche Dichte der musikalischen Durchdringung der Texte, vor allem durch die ausgezeichnete kontrapunktische Führung aller Stimmen.
Kaufmann hat seine Kompositionstechnik gegenüber vorausgegangenen Werken noch mehr differenziert und verfeinert. So erreicht er mit einer konsequent und sehr organisch durchgeführten Polyphonie ständig aparte Klangwirkungen, wofür der letzte Vers im ersten Lied "Der schöne Mon willt untergan" für Alt, Flöte und Harfe ebenso beispielhaft angeführt sei wie das nur orgelbegleitete Lied Jerusalem", bei dessen verhallend gedachter letzten Strophe sich insoweit eine Divergenz ergab, als die Orgel das Pianissimo der Sängerin nicht mehr nachvollziehen könnte.
Das dritte, im Tempo drängende Lied, beschreibt das mystische Verhältnis zwischen Mensch, Natur und Gott in einer durch instrumentale Zwischenspiele sich ergebenden Rondoform. Vom kompositorischen Aufbau her führt das vierte Lied zum Höhepunkt: Die Orgel untermalt sechs der sieben Verse dezent mit ostinaten Motiven, deren Idee vom Brahms-Lied "0 Tod, wie bitter bist du" inspiriert sein könnte. Auch hier eine rondohafte Anlage mit Variationen. Die Klage um den Kreuzestod Christi wird in der ganzen Bedrängnis des Mitleidenden in tief beeindruckender Weise, mit musikalischen Mitteln illustriert.
Gerda Blau-Lorek, seit Jahren bei Kaufmann-Konzerten ein stets willkommener Gast, imponierte erneut durch das füllige Timbre ihrer ausdrucksreichen Stimme. Die Textverständlichkeit bleibt allerdings, zumindest in der Stadtkirche, ein noch unerfüllter Wunsch. An der Orgel zeigte sich der einheimische Rudolf Schmid als der zuverlässigste Partner bei dieser Uraufführung, zu derem Gelingen außerdem die einheimische Flötistin Ingeborg Schmid, die Harfenistin Annemarie Schmeißer aus Baden-Baden, der Bratscher Karl Engel aus Altensteig, die Geigerin Elisabeth Rück aus Stuttgart und Roswitha Maier aus Waiblingen (Englisch Horn) ihren Anteil beitrugen.
Gerhard Kaufmann, der dem Zyklus die Losung vom Hören - in den Menschen hinein und in die Zukunft hören voranstellte, improvisierte bereits eingangs des mit rund 200 Zuhörern schwach besuchten Konzertes (warum nur diese geringe Resonanz auf ein so außergewöhnliches Angebot?) auf der Orgel Motive aus Ernst Peppings A-cappella-Messe "Kyrie Gott Vater in Ewigkeit". Das kraftvolle, Fanfarenstöße deutende Präludium, ein melodiöser Largoteil zu ostinaten Baßfiguren, ein wie Kaskaden überschäumendes Finale waren excellente Beispiele seiner hohen Begabung, musikalische Einfälle transparent zu machen. Man wird lange auf die Suche gehen müssen, Gleichwertiges rundum zu finden. Daß seine Kantorei wenigstens immer treu mitzieht, mag ihn manche Unbill überwinden lassen.
Der Chor hatte zwei schwierige Aufgaben zu lösen. Man müßte die Situation ab 1920 schildern, um begreiflich zu machen, warum dem am 1. Februar 1981 im 80. Lebensjahr verstorbenen Ernst Pepping eine so überragende Stellung im Chorschaffen als Gegengewicht zum dominierenden sinfonischen Orchester, ohne jeden konkurrierenden Abstrich, zuerkannt wurde. Jedenfalls stellte die 1938 entstandene, am 26. Oktober in Berlin unter Gottfried Grote uraufgeführte deutsche Messe für 4-6 stimmigen Chor einen ebensolchen entwicklungsgeschichtlichen Markstein dar wie zwölf Jahre hernach der phänomenale "Passionsbericht des Matthäus". Unwiederholbare, einmalige Ereignisse mit enormer Ausstrahlung auf das gesamte europäische Chorschaffen.
Hut ab vor dieser Nagolder Kantorei, die sich an solche Experimente wagt und sie darin auch noch hervorragend meistert. Besonders fein gelang die 4. Motette "Heilig ist Gott", weil Kaufmann den dezenten Vortrag wählte und die großartige polyphone Stimmenverflechtung verdeutlichte. Kompositorisch bedeutsamer ist (analog dem Agnus Dei) "Christe du Lamm Gottes", weil Pepping hier gleich zwei Cantus firmus-Melodien koppelte und diese Motette wie ein Glockengeläute schwingt. Nicht minder reizvoll ist der zweite Abschnitt des Credo "Wir glauben all an Jesum Christ" mit sequentierten Akkordbewegungen in den Männerstimmen. Gesangstechnisch riskant ist ein Decrescendo in Aufwärtsbewegungen der strophischen Schlüsse im Kyrie sowie die zu gewaltsamen Fortissimoschlüsse im Gloria und Credo bei aller verständlichen Absicht, sich zwingend ergebender Steigerungen. Die Soprane haben Mühe mit dem Spitzenton A, der kaum einmal voll getroffen wurde. Dessen ungeachtet: Diese Nagolder Erstaufführung war eine bravouröse Leistung.
Ebenfalls erstmalig war hier die doppelchörige Motette "Komm, Jesu, komm" von J. S. Bach zu hören, die wegen der Häufung verminderter Akkordbildungen zu den schwierigsten zählt. Hervorragend hat der Chor die damit verbundenen Intonationsprobleme bewältigt und bei diesem Konzert erneut seinen hohen Ausbildungsstand unter Beweis gestellt.
Gerhard Kaufmann gilt hohe Anerkennung für die Gestaltung dieses auf die Passionszeit einstimmenden Konzertes. Man kann ihm und seiner Kantorei nur zurufen, den Weg unbeirrt fortzusetzen, weil er einen großen Gewinn für die Mitwirkenden selbst und den musikinteressierten Kreis der Bevölkerung bringt - oder auch in Abwandlung der von Pepping ein Jahr vor der Messe geschaffenen Motette ermuntern: Ein jegliches braucht seine Zeit.


Kritik von Richard Schwarz zum Konzert am 5.4.1981
Chor mit spürbarer Hingabe
Passionsmusik der Kantorei mit hohen Ansprüchen

Nagold. Kantor Gerhard Kaufmann verzichtete auch in diesem Jahr auf die kirchenmusikalische Darstellung des Passionsgeschehens im Rahmen eines oratorischen Großwerks zugunsten eines Programms, das die Ereignisse in Gethsemane und auf Golgatha vom protestantischen Dogma her gewichtete. Dabei verhalf die Gegenüberstellung stilistisch ambivalenter Werke dem theologischen Sinngehalt eine Tiefenschärfe, wie sie durch die Auseinandersetzung mit nur einem Komponisten unerreichbar ist.
Der erst kürzlich hochbetagt verstorbene Komponist Ernst Pepping schuf auf dem Hintergrund des lutherischen Glaubensbekenntnisses eine 4- bis 6stimmige Chormesse im polyphonen Duktus, die er 1938 veröffentlichte. Diese "Deutsche Masse" stellt in der für ihren Schöpfer charakteristischen holzschnittartigen Herbheit hohe Ansprüche an das stimmliche und gestalterische Vermögen eines Chors; ohne Schönfärberei darf der evangelischen Kantorei Nagold bescheinigt werden, daß sie die Potenzen zur Erfüllung dieser interpretatorischren Voraussetzungen besitzt. Außerordentlich eindringlich gelangen ihr die katechetisch bezogenen Teile, glaubhaft und voll Demut das "Kyrie", visionär aufleuchtend verklang im "Heilig ist Gott der Vater" das "Hosianna" und ergreifend blieb die Bitte um Frieden im verklingenden "Amen" des fünften Teils.
Manche Hörer mag die der Konsonanz so bewußt entsagende, aufwühlende Tonsprache Peppings befremdet haben, setzt man sie mit der emotional gespeisten Kirchenmusik vergangener Jahrhunderte in Beziehung. Auch der Chor bewegte sich auf dem schwankenden Boden der Chromatik nicht in gleichem Maße sicher wie im später folgenden Bach-Werk, obwohl er, sich mit spürbarer Hingabe darum bemühte, den Intentionen seines Leiters gerecht zu werden. Sicher hat die Erarbeitung der Pepping-Messe viel Kraft und Zeit beansprucht, die sich in einer gültigen und für die Zuhörer denkwürdigen Aufführung niederschlug, auch wenn an einzelnen Stellen (Teil III) stimmliche Grenzen (vornehmlich im Sopran und Baß) hörbar wurden oder die gestalterischen Vorstellungen Kaufmanns, trotz eindrucksvoller Gestik und bildhafter Zeichengebung nicht bis ins letzte realisiert werden konnten: der anspruchsvolle Notentext gestattete nur sporadische Blickkontakte mit dem Dirigenten.
Vertrautheit mit der tradierten musikalischen Diktion, Geschlossenheit im musikalischen Ausdruck und persönliche Identifikation mit demselben strahlte das Ensemble in Bachs abschließender doppelchöriger Motette "Komm, Jesu, komm" aus. Sie war der Rückschlag der Stimmungsamplitude zu den vier Liedern nach barocken Texten Friedrich von Spees, die der Autor Gerhard Kaufmann beziehungsvoll in die Mitte des Programms gestellt hatte. Es nimmt nicht wunder, daß der Komponist die Lieder nach einer früheren Fassung neu instrumentiert hat, denn die Verse atmen so viel Musik, daß sie
ein adäquates klangliches Kleid einfach brauchen, um ihrem schwermütigen Passionscharakter ganz gerecht werden zu können. Mit Harfe, Englischhorn, Flöte, Violine, Viola und Orgel gab er den schlichten, meist strophisch gearbeiteten Melodien expressive Stimmung, was in gleicher Weise Spannung erzeugt wie der Kontrast der barocken Sprache in moderner Vertonung.
Gerda Lorek-Blau sang die auf ihre Anregung hin entstandenen Lieder sehr verhalten und nuanciert; daß ihr eine ausdrucksstarke und sehr modulationsfähige Altstimme besonders im Mittelregister zur Verfügung steht, konnte sie im dritten Stück, welches als einziges auch durchkomponiert ist, bewunderungswürdig zeigen. Es wurde deutlich, daß die Lieder im Blick auf ihre Stimme geschrieben wurden; mit ebensoviel Feingefühl und behutsamer Zuwendung sie sich ihrer an.
Mit Annemarie Schmeisser, Roswitha Maier, Ingeborg Schmid, Elisabeth Rück, Karl Engel und Rudolf Schmid hatte der erfolgreiche Veranstalter Kaufmann für die Quasi-Uraufführung ein versiertes Helferteam gewonnen, dessen verständnisvolles Zusammenwirken und Eingehen auf die Absichten des hellhörigen Dirigenten Kaufmann der Autor Kaufmann viel vom nachhaltigen Eindruck seiner Impressionen verdankt.
Zur Einleitung des Programms seiner Passionsmusik hatte er zunächst selber mit viel Geschick und Finessen seine Orgel vorgeführt: in einer dreiteiligen (vom Dreifaltigkeitsgedanken inspirierten?) Improvisation schonte er weder festliche Prinzipalchöre noch grelle Mixturen, blieb auch den schnarrenden Zungen und den lieblichen Flöten nichts schuldig und vorstieg sich gewiß nicht ohne Absicht pedaliter bis weit in die sechzehnfüßigen Posaunen.
Auch hier die Mittel des Kontrasts anwendend, genoß er mystische Stimmung mit Schweller und Fernwerk, bis er sich kraftvoll durchrang zum krönenden Durlicht - ein Akkord, der nicht Ausrufungszeichen, sondern Doppelpunkt wurde zum nachfolgenden Vokalwerk, der Deutschen Messe von Pepping, die er damit wirkungsvoll und höchst geistreich vorbereitete.

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